Lernprozesse sichtbar machen
Warum wir eine neue Prüfungskultur brauchen
Foto: Patricia Drewes © Anette Klein
Patricia Drewes ist Vorsitzende des Instituts für zeitgemäße Prüfungskultur e. V. in Berlin und leitet ein Bielefelder Gymnasium. In beiden Funktionen setzt sie sich für Prüfungsformate ein, die sich stärker an den konkreten Anforderungen des Lebens orientieren. Hier erklärt sie, wie zeitgemäße Prüfungen aussehen könnten und was sich dafür ändern muss.
2021 hat die Kultusministerkonferenz eine Weiterentwicklung der bisherigen Prüfungskultur vorgeschlagen. Wo auf diesem Weg stehen wir heute?
Patricia Drewes: In mehreren Bundesländern gibt es Bewegung. In Bayern läuft ein Modellprojekt. Im Bildungsministerium in Rheinland-Pfalz werden die Vorschläge zu einer zukunftsorientierten Lern- und Prüfungskultur diskutiert, die die Bertelsmann-Stiftung im Juni 2025 vorgelegt hat. In Nordrhein-Westfalen, in der Bezirksregierung Detmold, lief zwei Jahre lang das Projekt „Zeitgemäße Lern- und Prüfungskultur entwickeln und erforschen“. Daran waren wir vom Institut für zeitgemäße Prüfungskultur beteiligt, zusammen mit der Bezirksregierung und neun Schulen. Die Schulaufsichtsbehörde hatte dazu ermutigt, Neues auszuprobieren. Und sie hat den Rahmen gesetzt für einen engen und partizipativen Austausch zwischen Schulen und Schulaufsicht, das fand ich sehr positiv. Sonst ist es leider häufig so, dass die Schulen isoliert voneinander Schulentwicklung betreiben. Auch bei den rechtlichen Vorgaben ändert sich etwas, zum Beispiel bekommen mit den Oberstufenreformen in Niedersachsen oder Nordrhein-Westfalen neue Prüfungsformate und Präsentationsprüfungen mehr Gewicht.
Was kritisieren Sie an den traditionellen Prüfungen?
Die klassischen Prüfungen kommen immer zu früh oder zu spät, sie sind nie Teil der individuellen Lernentwicklung der Schülerinnen und Schüler. Als Erwachsene kämen wir nie auf die Idee, eine Leistung von allen zur selben Zeit am selben Ort einzufordern, ohne dass Kommunikation und Hilfsmittel erlaubt sind. So eine Art von Leistung ist eine Fiktion. Wir messen nur, was einfach zu messen und zu korrigieren ist. Mit künstlicher Intelligenz ist endgültig klar geworden, dass diese vielfach auf Reproduktion angelegte Prüfungskultur wenig Zukunft hat.
Wie sieht eine zeitgemäßere Prüfungskultur aus?
Prüfungen sollten stärker entwicklungsorientiert sein und individuelle Lernprozesse begleiten. Wir brauchen neue Formate und Freiräume, um zum Beispiel kooperativ zu arbeiten oder KI einzusetzen. Vor allem sollte Feedback ein Teil der Leistungsbewertung sein. Daneben könnten wir uns davon lösen, immer für alles und jedes Noten zu vergeben. Ich halte eine Lernverlaufs- und Lernprozessdiagnostik für sehr viel wichtiger. Wir sollten weg kommen von sozialen Bezugsnormen und hin zu individuellen und kriterialen Bezugsnormen. Mit einem hohen Maß an Feedback, damit die Schülerinnen und Schüler wissen, wo sie im Lernprozess stehen, und langfristigen Leistungsdokumentationen wie etwa Lernportfolios.
Noten dienen auch zur Allokation, also zur Zuweisung zum Beispiel auf die weiterführende Schule, ins Studium und den Beruf. Brauchen wir dafür nicht weiterhin Prüfungsformate mit sozialer Bezugsnorm?
Diese Funktion von Noten steht uns tatsächlich ein wenig im Weg, wenn wir eine zeitgemäßere Prüfungskultur erreichen wollen. Zudem suggerieren Noten eine Objektivität, die nicht gegeben ist. Es gibt genügend Beispiele dafür, dass die Prognostik der Schule nicht zutrifft. Unter anderem beeinflussen Faktoren wie eine schöne Handschrift die Bewertung. Verschiedene Lehrkräfte benoten ein und dieselbe Arbeit zum Teil ganz unterschiedlich. Wir können also gar nicht mit mathematischer Präzision messen und vergleichen. Ohnehin finde ich solche Vergleiche fragwürdig. Menschen unterscheiden sich in vielfacher Hinsicht voneinander, in Bezug auf ihre Begabungen, ihre Herkunft, ihren Alltag. Es gibt Kinder, die sehr behütet aufwachsen und viel Förderungen erhalten. Andere bekommen zuhause kaum Förderung. Kann man deren Leistungen überhaupt vergleichen und auf eine Note reduzieren, die dann über Zugänge zu verschiedenen Bildungswegen entscheidet?
Gibt es weitere Hürden auf dem Weg zu einer neuen Prüfungskultur?
Prüfungsordnungen sind auf das Ende und formale Leistungsnachweise wie das Abitur ausgelegt. Da geraten wir mit neuen Prüfungsformaten an die Grenzen, aber es gibt Spielräume. Eine zweite Hürde ist aber, dass Lehrkräfte oft die vorhandenen Spielräume nicht nutzen. Einige haben vielleicht Angst vor Sanktionen, anderen fehlt es an Routinen und guten Beispielen für neue Prüfungsformate. Außerdem gibt es nicht überall eine datengestützte Lernverlaufsdiagnostik, obwohl viele Bundesländer daran arbeiten. Hinzu kommt, dass die traditionellen Prüfungen in unserer Kultur tief verankert sind. Viele Eltern halten es für einen Teil des Curriculums, dass ihre Kinder Angst vor Prüfungen haben.
Welche Spielräume haben Schulen, die andere Prüfungsformate nutzen möchten?
Es gibt allgemeine behördliche Vorgaben, die sich gut einhalten lassen. Es muss beispielsweise immer die Einzelleistung der Schülerin oder des Schülers erkennbar sein. Allen müssen dieselben Hilfsmittel zur Verfügung stehen. Das erlaubt eine Fülle an digitalen Hilfsmitteln oder den Einsatz von KI-Tools. Man kann leicht bei Klassenarbeiten eine kooperative Phase vorschalten, in der sich die Schülerinnen und Schüler über ihr Verständnis der Arbeit austauschen. Eine andere Möglichkeit sind sogenannte Open-Media-Arbeiten. Dabei hat man zum Beispiel im Deutschunterricht vorher ein Portfolio angelegt, das man mit in die Klassenarbeit nehmen darf. Wenn man etwa ein Gedicht interpretieren soll, kann man es mit einem Gedicht vergleichen, das man bereits für das Portfolio bearbeitet hat.
Wie kann die Schulverwaltung auf dem Weg zu einer neuen Prüfungskultur unterstützen?
Ich habe die Rückendeckung der Schulverwaltung bei dem Projekt in Detmold als sehr hilfreich empfunden, im Sinn von: „Probiert das bitte aus, wir tragen eure Versuche mit und geben euch den notwendigen Rahmen. Und wir zeigen auf, wo das Prüfungsrecht Spielräume eröffnet, die ihr nutzen könnt.“ Darüber hinaus halte ich es für sinnvoll, wenn die Schulverwaltung dafür sorgt, dass solche Projekte wissenschaftlich begleitet und evaluiert werden. Ein dritter Punkt ist die Unterstützung in der Kommunikation mit Eltern, Verbänden, dem Schulministerium. In der Vergangenheit liefen solche Prozesse häufig top-down: Die Schulverwaltung gibt einen Erlass heraus und die Schulen müssen ihn umsetzen. Ich glaube, wenn wir davon wegkommen und solche Prozesse stärker bottom-up und im Dialog laufen, dann ist das ein Gewinn für alle Seiten.
Lernprozesse sichtbar machen
Warum wir eine neue Prüfungskultur brauchen
Foto: Patricia Drewes © Anette Klein
Patricia Drewes ist Vorsitzende des Instituts für zeitgemäße Prüfungskultur e. V. in Berlin und leitet ein Bielefelder Gymnasium. In beiden Funktionen setzt sie sich für Prüfungsformate ein, die sich stärker an den konkreten Anforderungen des Lebens orientieren. Hier erklärt sie, wie zeitgemäße Prüfungen aussehen könnten und was sich dafür ändern muss.
2021 hat die Kultusministerkonferenz eine Weiterentwicklung der bisherigen Prüfungskultur vorgeschlagen. Wo auf diesem Weg stehen wir heute?
Patricia Drewes: In mehreren Bundesländern gibt es Bewegung. In Bayern läuft ein Modellprojekt. Im Bildungsministerium in Rheinland-Pfalz werden die Vorschläge zu einer zukunftsorientierten Lern- und Prüfungskultur diskutiert, die die Bertelsmann-Stiftung im Juni 2025 vorgelegt hat. In Nordrhein-Westfalen, in der Bezirksregierung Detmold, lief zwei Jahre lang das Projekt „Zeitgemäße Lern- und Prüfungskultur entwickeln und erforschen“. Daran waren wir vom Institut für zeitgemäße Prüfungskultur beteiligt, zusammen mit der Bezirksregierung und neun Schulen. Die Schulaufsichtsbehörde hatte dazu ermutigt, Neues auszuprobieren. Und sie hat den Rahmen gesetzt für einen engen und partizipativen Austausch zwischen Schulen und Schulaufsicht, das fand ich sehr positiv. Sonst ist es leider häufig so, dass die Schulen isoliert voneinander Schulentwicklung betreiben. Auch bei den rechtlichen Vorgaben ändert sich etwas, zum Beispiel bekommen mit den Oberstufenreformen in Niedersachsen oder Nordrhein-Westfalen neue Prüfungsformate und Präsentationsprüfungen mehr Gewicht.
Was kritisieren Sie an den traditionellen Prüfungen?
Die klassischen Prüfungen kommen immer zu früh oder zu spät, sie sind nie Teil der individuellen Lernentwicklung der Schülerinnen und Schüler. Als Erwachsene kämen wir nie auf die Idee, eine Leistung von allen zur selben Zeit am selben Ort einzufordern, ohne dass Kommunikation und Hilfsmittel erlaubt sind. So eine Art von Leistung ist eine Fiktion. Wir messen nur, was einfach zu messen und zu korrigieren ist. Mit künstlicher Intelligenz ist endgültig klar geworden, dass diese vielfach auf Reproduktion angelegte Prüfungskultur wenig Zukunft hat.
Wie sieht eine zeitgemäßere Prüfungskultur aus?
Prüfungen sollten stärker entwicklungsorientiert sein und individuelle Lernprozesse begleiten. Wir brauchen neue Formate und Freiräume, um zum Beispiel kooperativ zu arbeiten oder KI einzusetzen. Vor allem sollte Feedback ein Teil der Leistungsbewertung sein. Daneben könnten wir uns davon lösen, immer für alles und jedes Noten zu vergeben. Ich halte eine Lernverlaufs- und Lernprozessdiagnostik für sehr viel wichtiger. Wir sollten weg kommen von sozialen Bezugsnormen und hin zu individuellen und kriterialen Bezugsnormen. Mit einem hohen Maß an Feedback, damit die Schülerinnen und Schüler wissen, wo sie im Lernprozess stehen, und langfristigen Leistungsdokumentationen wie etwa Lernportfolios.
Noten dienen auch zur Allokation, also zur Zuweisung zum Beispiel auf die weiterführende Schule, ins Studium und den Beruf. Brauchen wir dafür nicht weiterhin Prüfungsformate mit sozialer Bezugsnorm?
Diese Funktion von Noten steht uns tatsächlich ein wenig im Weg, wenn wir eine zeitgemäßere Prüfungskultur erreichen wollen. Zudem suggerieren Noten eine Objektivität, die nicht gegeben ist. Es gibt genügend Beispiele dafür, dass die Prognostik der Schule nicht zutrifft. Unter anderem beeinflussen Faktoren wie eine schöne Handschrift die Bewertung. Verschiedene Lehrkräfte benoten ein und dieselbe Arbeit zum Teil ganz unterschiedlich. Wir können also gar nicht mit mathematischer Präzision messen und vergleichen. Ohnehin finde ich solche Vergleiche fragwürdig. Menschen unterscheiden sich in vielfacher Hinsicht voneinander, in Bezug auf ihre Begabungen, ihre Herkunft, ihren Alltag. Es gibt Kinder, die sehr behütet aufwachsen und viel Förderungen erhalten. Andere bekommen zuhause kaum Förderung. Kann man deren Leistungen überhaupt vergleichen und auf eine Note reduzieren, die dann über Zugänge zu verschiedenen Bildungswegen entscheidet?
Gibt es weitere Hürden auf dem Weg zu einer neuen Prüfungskultur?
Prüfungsordnungen sind auf das Ende und formale Leistungsnachweise wie das Abitur ausgelegt. Da geraten wir mit neuen Prüfungsformaten an die Grenzen, aber es gibt Spielräume. Eine zweite Hürde ist aber, dass Lehrkräfte oft die vorhandenen Spielräume nicht nutzen. Einige haben vielleicht Angst vor Sanktionen, anderen fehlt es an Routinen und guten Beispielen für neue Prüfungsformate. Außerdem gibt es nicht überall eine datengestützte Lernverlaufsdiagnostik, obwohl viele Bundesländer daran arbeiten. Hinzu kommt, dass die traditionellen Prüfungen in unserer Kultur tief verankert sind. Viele Eltern halten es für einen Teil des Curriculums, dass ihre Kinder Angst vor Prüfungen haben.
Welche Spielräume haben Schulen, die andere Prüfungsformate nutzen möchten?
Es gibt allgemeine behördliche Vorgaben, die sich gut einhalten lassen. Es muss beispielsweise immer die Einzelleistung der Schülerin oder des Schülers erkennbar sein. Allen müssen dieselben Hilfsmittel zur Verfügung stehen. Das erlaubt eine Fülle an digitalen Hilfsmitteln oder den Einsatz von KI-Tools. Man kann leicht bei Klassenarbeiten eine kooperative Phase vorschalten, in der sich die Schülerinnen und Schüler über ihr Verständnis der Arbeit austauschen. Eine andere Möglichkeit sind sogenannte Open-Media-Arbeiten. Dabei hat man zum Beispiel im Deutschunterricht vorher ein Portfolio angelegt, das man mit in die Klassenarbeit nehmen darf. Wenn man etwa ein Gedicht interpretieren soll, kann man es mit einem Gedicht vergleichen, das man bereits für das Portfolio bearbeitet hat.
Wie kann die Schulverwaltung auf dem Weg zu einer neuen Prüfungskultur unterstützen?
Ich habe die Rückendeckung der Schulverwaltung bei dem Projekt in Detmold als sehr hilfreich empfunden, im Sinn von: „Probiert das bitte aus, wir tragen eure Versuche mit und geben euch den notwendigen Rahmen. Und wir zeigen auf, wo das Prüfungsrecht Spielräume eröffnet, die ihr nutzen könnt.“ Darüber hinaus halte ich es für sinnvoll, wenn die Schulverwaltung dafür sorgt, dass solche Projekte wissenschaftlich begleitet und evaluiert werden. Ein dritter Punkt ist die Unterstützung in der Kommunikation mit Eltern, Verbänden, dem Schulministerium. In der Vergangenheit liefen solche Prozesse häufig top-down: Die Schulverwaltung gibt einen Erlass heraus und die Schulen müssen ihn umsetzen. Ich glaube, wenn wir davon wegkommen und solche Prozesse stärker bottom-up und im Dialog laufen, dann ist das ein Gewinn für alle Seiten.